„Ich kann nicht mehr“ oder längst „Ich will nicht mehr“?

Erschöpfung, Kopf- und Rückenschmerzen, Magen-Darmprobleme, Herzrasen, Schlafstörungen, Ängste, Gereiztheit und reduzierte Leistungsfähigkeit schleichen sich in den Alltag von vielen. Häufig werden diese Warnzeichen beiseitegeschoben– bis irgendwann gar nichts mehr geht. Warum hinter dem „Ich kann nicht mehr“ oft längst ein „Ich will nicht mehr“ steht und wie es dann weitergehen kann, erfährst du hier.

Wie du merkst, dass du nicht mehr kannst

6:15 Uhr – dein Wecker klingelt. Verschlafen schlägst du die Augen auf, dein Körper fühlt sich schwer an. In deinem Kopf beginnt es bereits zu rattern: heute ist Beratungstag, vier Projekte, Gespräch mit der Chefin. Erstmal duschen. Du darfst nicht vergessen die Klamotten-Rücksendung für die Post auf dem Heimweg einzupacken. Was ziehst du überhaupt heute an? Wäsche hättest du auch mal waschen sollen, aber heute Abend musst du noch ins Fitnessstudio und vielleicht die Kinder versorgen. Seit Wochen plagen dich wieder Magenschmerzen. Du bist erschöpft. Kaum hast du den Wecker ausgestellt, flimmern Instagram-Reels von weißen Sandstränden auf Bali über deinen Bildschirm, Motivationscoaches raten um 5 Uhr aufzustehen und meditieren solltest du auch mal wieder.  Aber jetzt gerade rast dein Herz schon um 6:23 Uhr, beim Aufstehen spürst du die Anspannung in deinen Schultern und im Nacken sitzen, du quälst dich aus dem Bett und eine leise Stimme in dir flüstert „Ich kann nicht mehr.“ Du schlurfst in die Küche, du brauchst ganz dringend einen Kaffee und dann auf in den Tag.

STOP.

Vielleicht kennst du solche Situationen und Symptome. Vielleicht hast du auch öfter schon einmal „Ich kann nicht mehr“ gedacht. Vielleicht konnte dein:e Ärzt:in auch bei wiederholten Untersuchungen nichts finden, organisch sei alles perfekt. Langsam weißt du nicht mehr weiter.

Häufig werden diese Symptome dann auf Stress zurückgeführt. Betroffene versuchen fortan Stress zu vermeiden, ihren Alltag zu entschleunigen und Entspannungsrituale zu praktizieren. Enttäuscht müssen viele von ihnen feststellen, dass dies a) nicht die erwartete Erleichterung bringt und b) eine nie endende Aufgabe ist.

Die Frage, die sich stellt: warum sind so viele Menschen gestresst? Was steckt eigentlich hinter dem Stress?

Was ist Stress und was passiert dabei?

Stress entsteht, wenn sich Menschen mit einer Situation konfrontiert sehen, die für sie wichtig, jedoch mit den aktuell verfügbaren Mitteln nicht zu bewältigen erscheint (Lazarus & Folkman, 1984).
Die daraufhin eintretende Stressreaktion ist eine angeborene Funktion des Körpers, um blitzschnell auf Veränderungen, Anforderungen und Gefahren zu reagieren und diese meistern zu können. Mehr zum Thema Stress findest du hier.

Warum ein Leben, das nicht passt, zu Stress und Erschöpfung führt

So viele Menschen tun regelmäßig Dinge, die sie eigentlich selbst gar nicht wollen – im Beruf, in der Partnerschaft und Familie, im Freundeskreis, bei ihrer Freizeitgestaltung. Sie folgen Erwartungen und Plänen, die nicht ihre eigenen sind. Sie stecken in ungelösten Konflikten mit anderen oder mit sich selbst fest. Innere Konflikte können entstehen bei unvereinbaren Wünschen, an der Realität gescheiterten Lebensvorstellungen oder durch ein Konkurrieren von eigener Identität und Kindheitsprägungen. Diese Menschen stecken zurück und verstecken sich selbst. Sie leben selten so, wie es ihrem Wesen entspricht oder zu ihren individuellen Eigenschaften und Stärken, ihren Werten und Interessen, ihren Bedürfnissen und Voraussetzungen passt. Sie ignorieren das innere „Ich will nicht (mehr).“ Sie übergehen sich selbst. Sie leben gegen sich selbst.

Doch wer dauerhaft so lebt, ist permanent mit einer Anforderungssituation konfrontiert. Da ist die Anforderung, in Konflikten gegenzuhalten. Da ist die Anforderung, dass eigene ich zu unterdrücken. Da ist die Anforderung, die innere Unzufriedenheit mit der Situation und die damit einhergehende Traurigkeit, Wut und Enttäuschung beiseite zu schieben. Einen Alltag zu bewältigen, der nicht zum eigenen Wesen passt, kostet extra viel Energie. Durchhalten statt wirklich leben.

Doch was passiert, wenn Menschen in einem Leben feststecken, das nicht zu ihnen passt?

Die Alarmphase

Bereits der Vorreiter der Stressforschung Seyle (1946) beschrieb in seinem Modell des Allgemeinen Anpassungssyndroms die körperlichen Reaktionsmuster auf langanhaltende Stressoren. Sobald eine Situation als relevant bzw. gefährlich und damit als Stressor eingestuft wird, geht der Körper von seinem normalen Stress- und Widerstandsniveau über in die Alarmphase. Nehmen wir hier beispielsweise an, die 31-jährige Sarah arbeitet als Ingenieurin in einem großen Technologieunternehmen. Sie ist erfolgreich, wird von Team und Vorgesetzten gleichermaßen geschätzt, hat geregelte Arbeitszeiten und erhält ein gutes Gehalt. Sarah wollte jedoch nie Ingenieurin werden. In seltenen Momenten erinnert sie an die unzähligen Streits mit ihren Eltern, beide selbst Ingenieure, für die ein anderer Berufsweg für die Tochter niemals in Frage kam. Sarah selbst wollte eigentlich viel lieber etwas Soziales studieren. Sie erinnert sich an das rasende Herz in ihrer Brust, das Gefühl, schlecht Luft zu bekommen und die heftige Anspannung in ihrem Körper. Verantwortlich für eine solche Reaktion ist das sympathische Nervensystem. Stresshormone werden ausgeschüttet. Der Körper wird in Alarmbereitschaft versetzt, Aufmerksamkeit und Leistungsbereitschaft steigen. Im Idealfall ist die auslösende Situation rasch bewältigt und die Alarmphase wieder beendet.

Die Widerstandsphase

In einigen Fällen kann die Situation jedoch nicht bewältigt werden. Sarah quälte sich jahrelang erst durch das Studium und nun durch einen Job, der nicht ihren Interessen und Stärken entspricht. Oft belastet sie der Gedanke, wie ihre Leben wohl hätte aussehen können. Da sie nun aber einmal Ingenieurin geworden ist und zudem ihren Lebensunterhalt finanzieren muss, bleibt sie weiterhin in ihrem Job. Besteht keinerlei Möglichkeit, sich der Situation zu entziehen, dann geschieht Folgendes: a) der Körper kann sich nicht von der Alarmphase erholen und b) versucht stattdessen in der permanenten Konfrontation mit dem Stressor zu bestehen und dagegenzuhalten. In dieser sogenannten Widerstandsphase passt sich der Körper allmählich an die Präsenz des Stressors an und produziert vermehrt das Stresshormon Cortisol. Die Stressresistenz gegenüber diesem Stressor steigt vorrübergehend. Der Mensch ist also zunächst möglichst gut gerüstet, um sich mit dem nun chronischen Stressor auseinanderzusetzten und gegenzuhalten. Die anhaltende Stressreaktion zieht dabei oft psychosomatische Beschwerden mit sich: so bemerkt auch Sarah zunehmend Magenschmerzen, innere Unruhe und Schlafstörungen.

Die Erschöpfungsphase

Gelingt es auch auf Dauer nicht, die Situation zu bewältigen, so brauchen sich die Energiereserven des Körpers auf und der Widerstand kann nicht länger aufrechterhalten werden. Die sich nun anschließende Phase ist geprägt von Erschöpfung. Das Immunsystem kann geschwächt werden und möglicherweise stellen sich ernsthafte körperliche und psychische Erkrankungen ein. Auch Sarah fühlt sich zunehmend ausgelaugt. Es fällt ihr immer schwerer, auf der Arbeit konzentriert ihre Aufgaben zu erledigen. Für Hobbys hat sie schon längst keine Kraft mehr und vor ihren Freunden zieht sie sich mehr und mehr zurück. Neben einer heftigen Gastritis, erlebt sie auch immer häufiger Angstzustände. Die Stressresistenz liegt nun weit unter dem Ursprungsniveau. Nichts geht mehr. Der Körper ist ausgelaugt. Zwangspause.

Warum wir tun, was uns nicht guttut

Vielleicht stellst du dir nun die Frage, warum Menschen wie Sarah überhaupt so oft tun, was sie nicht wollen und ein Leben führen, das ihnen selbst nur wenig entspricht. Die Ursachen und Auslöser dafür sind genauso vielschichtig und individuell jeder Mensch selbst, sodass hier nur beispielhaft einige mögliche Aspekte skizziert werden können. Die Liste ist keinesfalls vollständig und selbstverständlich trifft nicht jeder Aspekt auf alle Betroffenen zu.

Einige Betroffene…

  • … wissen nicht, wer sie sind und was sie wollen
    Diese Betroffenen konnten nie ein Bewusstsein für sich selbst, ihre Bedürfnisse, Interessen, Werte und Wünsche entwickeln. Vielleicht waren ihre Eltern ebenfalls nicht mit sich im Kontakt und konnten diese Fähigkeit demnach auch nicht weitergeben. Vielleicht mussten die Betroffenen auch sehr früh erwachsen werden und für das eigene Entdecken und Ausprobieren blieb kein Raum. Vielleicht lernten sie als Kind, immer brav und vernünftig sein zu müssen und sich selbst zu unterdrücken, um geliebt zu werden.
  • … orientieren sich stark an gesellschaftlichen Erwartungen und Normen
    Sie folgen dem gesellschaftlich anerkannten Weg: Schule, Ausbildung oder Studium, Job, Heirat, Haus, Hund, Kinder – vor 35 – weil man das so macht. Sie gehen zum Yoga, weil es entspannen soll und stehen um 5 Uhr für die richtige Morgenroutine auf. Nach einem langen Tag mit Überstunden im Büro, gehen sie Abend noch zu Happy Hour. In der heutigen Leistungsgesellschaft mutet Busy-sein wie ein Statussymbol an und Stress ist längst Teil der unhinterfragten Normalität geworden.
  • … haben einen geringen Selbstwert
    Diese Betroffene spüren, was sie wollen. Sie ahnen, was ihnen guttut und was nicht. Aber sie übergehen diese Bedürfnisse und Interessen und streben dennoch danach ihre (unpassenden) Erwartungen an sich selbst zu erfüllen – vielleicht weil ein alternativer Weg weniger erfolgreich und anerkennungswert erscheint. Vielleicht bewegt sie auch ein inneres „Ich muss“ dazu. Vielleicht stellen sie die Bedürfnisse anderer vor sich selbst. Vielleicht halten sie sich selbst nicht für wertvoll, nicht für genug, so wie sie wirklich sind.
  • … glauben nicht, etwas verändern zu können
    Diese Betroffenen glauben nicht daran, etwas verändern und ihr Leben nach eigenen Vorstellungen leben zu können. Vielleicht fühlen sie sich auch hilf- und planlos und wissen nicht, wo sie ansetzen und welche Schritte sie gehen könnten.
  • … haben Angst vor Konflikten und Ablehnung
    Manche Betroffene trauen sich nicht, besser für sich zu sorgen, ihre eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren, Grenzen zu setzen etc. Sie haben Angst, dafür negative Konsequenzen aus ihrem sozialen Umfeld zu erleben – weniger beliebt zu sein, weniger dazuzugehören, weniger Zuneigung zu erhalten, weniger Anerkennung zu bekommen. Vielleicht befürchten sie auch Konflikte oder ein Verlassenwerden von Partner:in, Familie und Freund:innen zu riskieren.

  • … erleben (reale) Hindernisse auf dem Weg zur Veränderung
    Oft tragen Betroffenen Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere – beispielsweise Kinder oder pflegebedürftige Angehörige. Vielleicht ist aber auch die finanzielle und soziale Situation schwierig, der Wunschberuf aufgrund Studienplatzbeschränkungen unerreichbar oder der Traum rückt durch gesundheitliche Beschwerden in die Ferne. Solche Hindernisse können eine radikale Umgestaltung des eigenen Lebens selbstverständlich erschweren und sollten bei geplanten Veränderungen berücksichtigt werden.
  • Und noch so viele Möglichkeiten mehr …

Das hier ist kein klassischer Influencer-Post, der dir als Standardlösung vorschlagen will, deinen Job und dein Leben hier hinter dir zu lassen und auf eine tropische Insel deiner Wahl auszuwandern. Für die meisten Menschen ist dies wahrscheinlich weder realistisch noch hilfreich noch erstrebenswert.
Vielmehr geht es darum, hinzuschauen, wo du selbst noch mit dir im Kontakt stehst, wo du ihn vielleicht über die Zeit verloren hast oder nie spürtest. Du darfst hinschauen, wo dein Leben dir (noch) selbst entspricht und wo deine Bedürfnisse und Vorstellungen und die Realität möglicherweise weit auseinandergehen. Du darfst herausfinden, wo du ansetzen und Veränderungen beginnen kannst – Schritt für Schritt.

Was kannst du nun konkret tun, wenn „Ich kann nicht mehr“ dein Leben beherrscht?

  1. Erste Anlaufstelle: Hausärzt:in
    Nur ein:e Ärzt:in kann dich gründlich untersuchen und mögliche organische Ursachen für deine Symptome ausschließen. Falls notwendig wird er bzw. sie dich zur weiteren Abklärung an spezialisierte Fachärzt:innen überweisen. Wenn keine körperlichen Ursachen gefunden werden, wirst du sicherlich eine Variation von „Alles okay, das ist nur der Stress“ oder wahlweise „Das ist wohl psychosomatisch“ hören. Vielleicht erhältst du Medikamente, die deine Beschwerden symptomatisch lindern können, z. B. Schmerzmedikamente, Beta-Blocker, Protonenpumpenhemmer, und den Hinweis, mehr auf Entspannung und Ausgleich im Alltag zu achten. Eventuell bekommst du auch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
  2. Psychologische Beratung und Psychotherapie helfen!
    Liegt bei dir bereits eine psychische Störung mit klinisch relevantem Ausmaß vor, z. B. eine depressive Episode, eine Angststörung oder Substanzmissbrauch von Alkohol oder Tabletten, dann kann dir ein:e psychologische:r oder ärztliche:r Psychotherapeut:in helfen. Nur diese:r ist entsprechend umfassend ausgebildet und darf psychische Störungen mit Krankheitswert therapieren. Gegebenenfalls ist auch die Mitbehandlung durch eine:n Psychiater:in sinnvoll. Diese können dich mit Psychopharmaka, z. B. Antidepressiva oder Beruhigungsmitteln, unterstützen.

Hast du Glück, und (noch) keine manifeste psychische Störung, kann psychologische Beratung dir weiterhelfen. Hier geht es nicht darum, dich zu therapieren oder zu heilen, sondern dich mit psychologischem Wissen und Methoden zu begleiten. Schritt für Schritt lernst du mit dir selbst (wieder) in Kontakt zu kommen und dein Leben so zu gestalten, dass es zu dir passt und du zu dir (zurück-)finden kannst.

Ziel ist, dass du selbst dein Leben in die Hand nimmst und langfristig in der Lage bist, immer wieder hinzuschauen, nachzujustieren und mehr Gesundheit und Lebensqualität zu erleben. Fragen, die du dir dabei stellen darfst, könnten sein:

  • Warum bin ich in dieser Situation gelandet?
  • Was steckt hinter meinen Symptomen, wenn alle medizinischen Untersuchungen unauffällig sind?
  • Wie kann ich mit meinen Symptomen besser umgehen lernen?
  • Wie erkenne ich meine Emotionen und wie gehe ich damit um?
  • Fühle ich mich richtig in meinem Beruf und Arbeitsumfeld?
  • Fühle ich mich gesehen und erfüllt in meinen Beziehungen?
  • Gestalte ich meine Freizeit so, wie es mir Freude macht?
  • Welche Bedürfnisse habe ich und wie kann ich diese erfüllen?
  • Welche früheren Erfahrungen prägen mich?
  • Welche Glaubenssätze und Grundannahmen habe ich und wie kann ich sie verändern?
  • Wie kann ich Verantwortung übernehmen für mein Wohlbefinden?
  • Wo liegen meine Interessen, Stärken, Werte etc. und wie kann ich mein Leben mehr daran orientieren?
  • Wie treffe ich leichter Entscheidungen?
  • Wie kann ich für mich selbst einstehen?
  • Wie kann ich mehr Erholung und Freude in meinen Alltag bringen?

Für deine eigene Gesundheit und dein eigenes Wohlbefinden darfst du immer wieder hinschauen und dich fragen „Komme ich in meiner Lebensgestaltung, meinen Zielen, meiner Arbeit, meinen Beziehungen, meinen Freizeitaktivitäten selbst noch vor? Bin das ich?“ Und falls dem immer öfter nicht so ist, dann bist du eingeladen, dich auf die Suche zu begeben, was du eigentlich möchtest und brauchst. Du darfst Dinge verändern, im Kleinen und im Großen.

Und falls du dir dabei Unterstützung wünschst, melde dich gern bei mir.

Literatur:
Lazarus, R. S. & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping. New York, NY: Springer.
Selye, H. (1946). The general adaptation syndrome and the diseases of adaptation. The journal of clinical endocrinology6(2), 117-230.